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Eine Mindestsicherung für Europa

Verwandtes Denkmodell: Demonstranten in Hamburg fordern ein bedingungsloses Grundeinkommen.
Foto: .Agnus/Flickr, Copyright: CC BY-NC-SA 2.0

27. Juni 2012
Maximilian Bracke, Frieder Neumann, Matthias Pohlig, Jan Rejeski, Philipp Zündorf
Die EU steht gegenwärtig vor historischen Herausforderungen: Ende des stetigen und scheinbar unerschöpflichen Wirtschaftswachstums, schnellere und intensivere Konjunkturzyklen, horrende Staatsverschuldung, wachsende soziale Ungleichheit und Armut, hohe Arbeitslosigkeit, ein immer größer werdendes politisches Legitimationsdefizit der europäischen Politik und das Erstarken rechtspopulistischer, anti-europäischer Kräfte. All dies sind die Symptome einer echten wirtschaftlichen, sozialen und politischen Krise des Europäischen Projekts.

Die Fortführung des Status quo ist keine Option

Aus dieser Misere gibt es nur zwei Auswege: Entweder die Mitgliedstaaten drehen den bisher erreichten Stand der Integration zurück und fallen damit in nationalstaatliches Denken zurück. Oder sie erweitern und stärken die Kompetenzen der Union. Eine Fortführung des Status quo ist – das zeigt sich in der aktuellen Krise immer deutlicher – keine Option. Ein gemeinsamer Markt mit einer gemeinsamen Währung kann ohne gemeinsame Wirtschafts-, Steuer- und Sozialpolitik nicht dauerhaft ohne massive Desintegrationstendenzen bestehen. Weil diese Politikbereiche aber bisher in der Hand der Nationalstaaten verblieben sind und nur die Geldpolitik vollständig vergemeinschaftet wurde, haben die Staaten in der gegenwärtigen Krise national und zum Teil sehr unterschiedlich mit fiskalpolitischen Anpassungsmaßnahmen auf globale Probleme und Herausforderungen reagiert. Im Ergebnis hat sich die ohnehin schon bestehende Heterogenität der wirtschaftlichen Leistungsfähigkeit der europäischen Staaten dadurch noch weiter verstärkt und damit den gemeinsamen Währungsraum stark in Bedrängnis gebracht.

Sozialpolitische Integration vertiefen

Wenn man das Projekt der Europäischen Integration nicht aufs Spiel setzen will, kann daher kein Zweifel an der Notwendigkeit einer weiteren Vertiefung der Integration bestehen, die auch den Bereich der Sozialpolitik einschließen muss. Ansätze einer offenen Koordinierung, die bisher auf diesem Politikfeld hauptsächlich praktiziert werden, greifen angesichts der aktuellen gesellschaftlichen Herausforderungen jedoch zu kurz. Zunehmende Armut, ein Anwachsen sozialer Ungleichheit und schlechte Lebensbedingungen in vielen Mitgliedsländern bedrohen sowohl die gesellschaftliche Teilhabe Einzelner als auch den inneren Frieden und die Stabilität der EU insgesamt. Die EU kommt daher nicht umhin, eine überzeugende Antwort auf die immer drängendere Frage der sozialen Inklusion zu geben. Auch um die durch den bisherigen Integrationsprozess bewirkten Errungenschaften und Wohlstandsgewinne nicht zu gefährden, führt dabei an einer Weiterentwicklung der EU in Richtung einer Sozialunion, ja hin zu einer europäischen Solidaritätsgemeinschaft, kein Weg vorbei. Ein wichtiger und notwendiger Schritt auf diesem Weg zu einer vertieften Sozialintegration wäre eine Mindestsicherung für Europa.

Dringender Handlungsbedarf

Gerade im Sozialsystem besteht aufgrund von konstant hohen Armutsquoten, steigender Jugendarbeitslosigkeit und weit verbreiteter Prekarisierung ein großer Handlungsbedarf, der sich angesichts des Sparzwangs durch die Schuldenkrise noch zu verstärken droht.

So waren 2009 laut der europäischen Statistikbehörde Eurostat [1] mehr als 16% aller EU-Bürger/innen von Armut gefährdet – das entspricht mit ca. 79 Millionen Menschen beinahe der gesamten Bevölkerung Deutschlands. Bei Kindern und alten Menschen ist die Lage sogar noch dramatischer: 20% der Kinder und 18% der über 65-Jährigen leben in Armut. Und für 8% der Europäer/innen genügt sogar eine Arbeitsstelle nicht, um der Armut zu entkommen. Angesichts dieser dramatischen Lage ist das Ziel der Europäischen Union, im Rahmen der Wachstumsstrategie 2020 die Zahl der Europäer unter der nationalen Armutsgrenze in den nächsten zehn Jahren um 25% zu verringern, nicht ausreichend. Wirft man einen genaueren Blick auf die Armutsquoten, dann fallen zudem die deutlich differierenden Werte für die einzelnen Mitgliedsstaaten auf. So leben 25,7% der gesamten Bevölkerung in Lettland unter der Armutsgrenze – in Tschechien dagegen sind es nur 8,6%. Deutschland schneidet mit 15,5% übrigens nur unwesentlich besser ab als der EU-Durchschnitt. Diese Zahlen sind vor allem deshalb besonders alarmierend, weil sie die Situation nach dem Erhalt von Sozialleistungen widerspiegeln. Die europäischen Sozialsysteme sind also offensichtlich nicht in der Lage, einen effektiven Schutz vor Armut zu bieten. Dies schlägt sich in den ganz konkreten Lebensumständen der Menschen nieder. Während sich beispielsweise in Luxemburg nur 0,3% der Bevölkerung keine ausreichende Beheizung der Wohnung leisten kann, sind es in Italien schon 10,6%, in Polen 16,3% und in Rumänien gar 22%.

Eine Mindestsicherung für Europa

Eine Mindestsicherung ist eine steuerfinanzierte staatliche Sozialleistung, die allen Bürger/innen im Bedarfsfall unabhängig von Beitragszahlungen ein Minimum an materiellen Ressourcen garantiert, sofern alternative Einkommensquellen sowie andere Sozialleistungen ganz oder teilweise erschöpft sind und/oder nicht ausreichen, um dieses Minimum zu decken. Das erklärte Ziel der Mindestsicherung besteht in der Bekämpfung von Armut und sozialer Ausgrenzung und der Ermöglichung von sozialer Teilhabe. Sie fungiert als letztes soziales Auffangnetz. Alle Personen, die die Voraussetzungen und Bedingungen erfüllen, haben einen gesetzlich verankerten Anspruch auf die Mindestsicherung.

Zwar gibt es bereits in fast allen Mitgliedstaaten der Europäischen Union ein nationales Mindestsicherungssystem als Teil des Wohlfahrtsstaates, das diesen Kriterien weitgehend entspricht – mit Ausnahme von Griechenland, Spanien und Italien, wo es entweder gar nicht (Griechenland) oder nur vereinzelt auf regionaler Ebene (Italien) bzw. mit erheblichen regionalen Unterschieden (Spanien) existiert. Allerdings differieren die Systeme nicht nur in der konkreten Ausgestaltung z.B. der Bezugsbedingungen, sondern vor allem in Hinblick auf eine armutsfeste Leistungshöhe erheblich. Legt man die in der Europäischen Union allgemein akzeptierte Armutsrisikogrenze von 60% des nationalen äquivalenzgewichteten Medianeinkommens zugrunde – also den Anteil von 60% am Einkommen der Person in der Mitte der gesamten Verteilung, wobei die jeweilige Familiensituation über Gewichtungen berücksichtigt wird – dann schaffen es wenige EU-Staaten die Empfänger_innen der Mindestsicherung aus der Armut zu holen. Besonders gering fallen die Leistungen in vielen süd- und osteuropäischen Staaten mit Ausnahme von Polen und Litauen aus. [2]

Sanfte Harmonisierung der nationalen Wohlfahrtssysteme

Die Idee einer Mindestsicherung für Europa hat zum Ziel, das soziale Auffangnetz in allen EU-Ländern armutsfest zu machen und eine sanfte Harmonisierung der nationalen Wohlfahrtssysteme im Bereich der Mindestsicherung zu erreichen. Demnach sollte die Europäische Union die Mitgliedstaaten durch Erlass einer entsprechenden Richtlinie verpflichten, eine Mindestsicherung in Höhe der nationalen Armutsrisikogrenze bereitzustellen. Um einen effektiven Schutz vor Armut zu gewährleisten, sollte hierbei der europaweit akzeptierte und gebräuchliche Wert von 60% des mediangemittelten Nettoäquivalenzeinkommens zu Grunde gelegt werden. Die Umsetzung, und somit die genaue Ausgestaltung, insbesondere in Hinblick auf die detaillierten Anspruchsvoraussetzungen und Bedarfskriterien sowie die Verwaltungsregelungen, würde weiterhin den einzelnen Mitgliedstaaten überlassen bleiben, Damit könnte die Anpassung im Einklang mit dem historisch gewachsenen Sozialmodell der nationalen Wohlfahrtsstaaten erfolgen.

Änderung der Europäischen Verträge

Dennoch bedürfte es zur Einführung der hier vorgeschlagenen Mindestsicherung wohl einer Änderung der Europäischen Verträge, wobei lediglich die Kompetenz der Union zum Erlass von Mindestvorschriften gem. Art. 153 Abs. 2 AEUV auf den Bereich der Bekämpfung von Armut und sozialer Ausgrenzung ausgedehnt werden müsste. Diese Änderung der Verträge würde es der Union erlauben, ihre Kompetenz in diesem Bereich endlich wirksam wahrzunehmen und die Versprechen und Absichtserklärungen in die Realität umzusetzen. Bei den Überlegungen zur Umsetzung einer Mindestsicherung für Europa müssen ebenso die Rahmenbedingungen innerhalb der Nationalstaaten Berücksichtigung finden. So hat etwa das deutsche Bundesverfassungsgericht in seiner Entscheidung zum Vertrag von Lissabon zwar betont, dass „namentlich die Existenzsicherung des Einzelnen [...] weiterhin primäre Aufgabe der Mitgliedstaaten bleiben“ muss. Diese Aussage hat das Gericht jedoch gleichzeitig wieder eingeschränkt und eine Möglichkeit zu einer einheitlichen Mindestsicherung aufgezeigt, indem es betont, dass eine „Koordinierung [der Sozialpolitik, Anm. der Verf.] bis hin zur allmählichen Angleichung nicht ausgeschlossen ist“.

Keine Abwärtsspirale  bei den Sozialleistungen

Wie eingangs bereits angesprochen, stellen die Unterschiede in der Fiskalpolitik der Mitgliedsstaaten die Union vor große Schwierigkeiten. Durch die Festlegung einer unionsweiten sozialen Mindestsicherung könnte die Problematik zumindest zu einem gewissen Grad entschärft werden. Wenn jeder Mitgliedsstaat eine Mindestsicherung in Höhe der jeweiligen Armutsrisikogrenze gewährleisten müsste, wäre dies eine effektive Bremse für Sozialkürzungen bei den schwächsten Mitgliedern der Gesellschaft. Nicht nur in Krisenzeiten ließen sich mit einer sozialen Mindestsicherung für Europa ein Absenken des Existenzminimums und damit eine Abwärtsspirale bei den Sozialleistungen effektiv verhindern.  

Dauerhafte Teilhabe ermöglichen – Stärkung der Kohäsion

Es wäre also sichergestellt, dass auch unter dem Druck wirtschaftlicher Schwierigkeiten in der gesamten Union ein bestimmtes Niveau an sozialer Sicherung nicht unterschritten wird. Die Garantie einer europaweiten sozialen Mindestsicherung könnte in der Krise sogar als eine Art automatischer Stabilisator wirken und einen Abschwung etwas abbremsen. Vor allem aber ist erst mit einer solchen Garantie eine dauerhafte soziale Teilhabe an der Gesellschaft überhaupt möglich. Die Menschen hätten die Sicherheit, in schwierigen Lebenssituationen nicht aus der Gesellschaft ausgegrenzt zu werden. Insofern wäre eine Mindestsicherung ein wichtiger Beitrag für eine Stärkung des sozialen Zusammenhalts und des sozialen Friedens in Europa.

Stärkere Identifikation mit Europa

Schließlich kann die Einführung einer Mindestsicherung für Europa auch dazu beitragen, die Meinung der Bürger/innen zu Europa wieder positiver zu gestalten. Die vielfach kritisierte strikt marktliberale Ausrichtung der EU ließe sich korrigieren, und der Ruf nach einem sozialeren Europa bekäme ein festes institutionelles Fundament. Denn es ist ja gerade die EU, die hier regulativ im Sinne der schlechter gestellten Gesellschaftsmitglieder tätig wird und die Mindestsicherung in ihrer Existenz und Höhe festschreibt. Brüssel würde damit auch als Garant sozialer Bürger/innenrechte auftreten. Dies würde gleichzeitig zu einer Stärkung der Identifikation mit Europa führen und einen dringend notwendigen legitimatorischen Gewinn für die EU bedeuten.

Wie kann die soziale Mindestsicherung finanziert werden?

Da die Umsetzung der Mindestrichtlinie zur Gänze in der Verantwortung der Mitgliedstaaten läge, stünde auch der Modus der Finanzierung grundsätzlich zu ihrer Disposition. Je nach derzeitiger Effektivität bei der Armutsbekämpfung würde der nötige Mehraufwand an Mitteln in den Mitgliedsstaaten sehr unterschiedlich ausfallen. Folgender – europäischer – Weg erscheint uns diesbezüglich als realistisch und vertretbar: Durch die Mehrwertsteuer-Systemrichtlinie wird die Umsatzsteuer in der Europäischen Union einheitlich geregelt, wobei momentan 15% als Mindestregelsteuersatz sowie mindestens 5% als ermäßigter Steuersatz vorgesehen sind. Eine moderate Anhebung des erstgenannten Satzes könnte Mittel zur Finanzierung der Mindestsicherung generieren. Dies ließe sich zudem sozial und ökologisch ausgewogen gestalten, indem beispielsweise nicht nachhaltige Luxusgüter höher besteuert würden. Freilich ist dieser Weg nur einer von vielen und es bedürfte einer genaueren Erörterung der Frage, in welchem Rahmen sich die Anpassung des Mindeststeuersatzes jeweils bewegen müsste, um eine Finanzierung der zusätzlich anfallenden Ausgaben für die Erhöhung des Leistungsniveaus auf die länderspezifische Armutsrisikogrenze zu gewährleisten. Als Alternativen wären beispielsweise auch eine europaweite Finanztransaktionssteuer oder eine europäisch geregelte CO2-Steuer denkbar.

Wann wenn nicht jetzt?

Im Europäischen Parlament ist bereits über eine durch die EU garantierte Mindestsicherung in Höhe der nationalen Armutsrisikogrenze von 60% des nationalen Medianäquivalenzeinkommens debattiert worden. In mehreren Stellungnahmen und Resolutionen hat das Parlament die EU-Kommission auffordert, beim Thema Mindestsicherung aktiv zu werden – bislang erfolglos. Aber wann, wenn nicht jetzt, in einer tief greifenden Krise des europäischen Integrationsprojekts, ist die Zeit für eine Vertiefung der Integration im Bereich der Sozialpolitik als Chance für ein starkes und zukunftsfähiges Europa gekommen? Eine Mindestsicherung für Europa wäre ein wichtiger und zugleich behutsamer Schritt in diese Richtung.

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Die Autoren sind Stipendiaten der Heinrich-Böll-Stiftung und in der AG Wirtschaftspolitik des Studienwerks aktiv.

Fußnoten:

[1] Vgl. als Quelle für alle nachfolgenden Zahlen: Eurostat: European Union Statistics on Income and Living Conditions (EU-SILC) und European Union Labour Force Survey (EU-LFS) (verfügbar unter: http://epp.eurostat.ec.europa.eu/portal/page/portal/statistics/search_database - 25.9.2011).

[2] Vgl. Europäische Kommission, GD Beschäftigung, Soziales und Integration: MISSOC 1/2011, Tabelle XI (Datenbank des Systems zur gegenseitigen Information über den sozialen Schutz, verfügbar unter:  http://ec.europa.eu/employment_social/missoc/db/public/compareTables.do?year=20110101&lang=de – 12.3.2012).

 

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